Bleib bei mir - Reportage

Neun Jahre hat Friedhelm seine Krebserkrankung ignoriert. Doch mittlerweile ist der Krankheitsverlauf so fortschreitend, dass er die Situation nicht mehr weiter verdrängen kann. Die Ärzte stellen ihn vor eine schwere Entscheidung.

Ingeliese und Friedhelm Blum sind seit 46 Jahren verheiratet. Er raucht seit über 50 Jahren und wurde 2006 das erste Mal heiser. Bereits damals ließ er sich wegen Krebszellen auf den Stimmbändern behandeln – mit seiner Frau spricht er jedoch nicht darüber. Sie hat aufgehört ihn danach zu fragen.
Gegen ärztlichen Rat rauchte Friedhelm weiter, die letzten zwei Jahre ging er gar nicht mehr zum Arzt. „In der Uni-Klinik, in der ich behandelt wurde, haben sie mich wie eine Nummer behandelt, deswegen bin ich dort nicht mehr hin.“ Seit einem halben Jahr kann er kaum schlucken, verliert massiv an Gewicht und hat Atemnot. Wegen Hustenattacken schlafen er und seine Frau schon lange in getrennten Zimmern.
Friedhelm hat 48 Jahre als Bankkaufmann gearbeitet. Seit vier Jahren ist er Rentner. Als Kind wollte er Autoschlosser für einen Auto-Rennstall werden. So hat er, wann immer möglich, die Hände im Ruß und Motoröl, wenn er nicht gerade im Wald „Holz machen geht“. Über eine Empfehlung gelangt Friedhelm an den HNO-Arzt Dr. Nebel. Friedhelm überlegt, sich nach langer Zeit vielleicht wieder untersuchen oder sogar behandeln zu lassen.
Gemeinsam mit seinen Söhnen tüftelt Friedhelm oft an Autos, Traktoren und Motorrädern. In der Garage des ältesten Sohnes wechseln sie gemeinsam das Getriebe seines Volkswagens. Alle Söhne rauchen, wie der Vater, seit ihrer Jugend.
Die Atemnot von Friedhelm ist so schlimm, dass er sich wieder behandeln lässt. Zum ersten Mal nimmt er Ingeliese mit zur Konsultation. Die Ärztin veranlasst eine Gewebeprobe. Der Eingriff dauert eine halbe Stunde und wird unter Vollnarkose durchgeführt.
Oberstabsarzt Thieltges teilt Friedhelm das Labor-Ergebnis der Gewebeprobe noch am gleichen Tag mit. Die Diagnose: Krebs. „Wenn Sie leben möchten, dann müssen wir Ihren Kehlkopf entfernen.“
Ingeliese hat seit Jahren befürchtet, dass Friedhelm Krebs hat. Für Friedhelm war die Diagnose eine Überraschung. Obwohl er bereits vor einigen Jahren Tumorzellen auf den Stimmbändern hatte, glaubte er nicht, dass es tatsächlich Krebs war. „Alles in Allem, besonders jetzt, hat uns die Krankheit viel näher zusammen gebracht. Die Hauptsache ist, dass er bei mir bleibt, egal was passiert“, sagt Ingeliese im Krankenhaus.
Nach der Biopsie ist sich Friedhelm nicht sicher, ob er sich den Kehlkopf entfernen lassen möchte. Denn damit würden auch seine Stimmbänder entfernt und er wäre stimmlos. Um Friedhelm die Entscheidung für die Operation zu erleichtern, hat Oberfeldarzt Dr. Nebel einen ehemaligen Patienten eingeladen. Der Mann, ein 61-jähriger Zahnarzt, dem vor vier Jahren der Kehlkopf entfernt wurde, kann mittlerweile sogar freihändig sprechen und gleichzeitig mit beiden Händen wieder praktizieren.
Friedhelm hat beschlossen, sich operieren zu lassen. In der evangelischen Kirchengemeinde verabschiedet er sich nach dem Bibelkreis von seinen Freunden. Aus Sorge um seine Gesundheit hat ihn sein gesamtes Umfeld hat dazu gedrängt, endlich wieder zum Arzt zu gehen.
Enkelin Lisa betet für ihren Großvater bei der Andacht des Jugendhauskreises. Das wöchentliche Treffen ist einer der wenigen Anlaufpunkte für junge Erwachsene im Dorf. Vor 35 Jahren organisierte Friedhelm die ersten Treffen dieser Art in der Kirchengemeinde.
Nach einem Spaziergang verabschiedet sich die jüngste Tochter Laura als Letzte am Tag vor der Operation. Obwohl dies die letzten 16 Stunden sind, in denen Friedhelm noch sprechen kann, möchte er nicht mehr reden und schickt seine Familie nach Hause.
Oberstabsarzt Thieltges bereitet die Operation vor. Fünf Stunden wird sie ohne Pause an Friedhelms Hals operieren. Im Verlauf des Eingriffes benötigt sie, zum Freilegen und Herausschneiden des Kehlkopfes, die Anwesenheit zwei weiterer Arzt-Kollegen. Die Operation verläuft gut, der Tumor lässt sich ohne Komplikationen entfernen. Nach dem Eingriff verbringt Friedhelm 24 Stunden auf der Überwachungsstation. In der folgenden Zeit muss er künstlich über eine Magensonde ernährt werden. Zunächst kann er nicht sprechen und kommuniziert daher über Stift und Papier. Wie, wann und ob er überhaupt wieder sprechen können wird, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht absehen.
Noch ist nicht alles ausgestanden. Obwohl die Lymphknoten frei waren, raten die Ärzte Friedhelm zur Bestrahlung. Er hat zwar die Provox Sprechkanüle erhalten und alle Wundnähte sind auch dicht, jedoch funktioniert langes sprechen noch nicht so gut. Laura hat Friedhelm deswegen einen Laptop mitgebracht, so dass er auf der Tastatur schreiben kann. Seine Handschrift ist oft schwer zu entziffern.
„Wir wollten zusammen einen Dankgottesdienst feiern. Wir kommen dahin – kein Mensch da, nicht mal ein Pastor!“ amüsiert sich Ingeliese in der Krankenhauskapelle. „Dabei war es doch angekündigt, dass einer kommen sollte!“
Friedhelm hat sich schneller erholt, als erwartet. Bereits nach zehn Tagen kann er wieder essen, trinken und halbwegs sprechen. Bei anderen Patienten dauert dies oft zwei bis drei Monate.
In einer WhatsApp-Chat-Gruppe hält Ingeliese per Telefon den engsten Kreis, 20 Familienmitglieder, direkt über Friedhelms Entwicklung auf dem Laufenden.
Im Morgengrauen des Ostersonntags nimmt die Familie mit Friedhelm an der Wanderung zur evangelischen Kirche im Nachbardorf teil. Mit einer Umarmung und den Worten „Christus ist auferstanden – er ist wahrhaftig auferstanden!“ begrüßen sie sich herzlich.
Nur 16 Tage nach der Operation darf Friedhelm wieder nach Hause. Die Atemnot und die Hustenanfälle gehören nun der Vergangenheit an. Auch das Sprechen fällt ihm mittlerweile wesentlich leichter. Kurz nach der Entlassung aus dem Krankenhaus ist er wieder ganz der Alte. Gemeinsam mit seinem ältesten Sohn fährt er zum Holz holen in den Wald.
Seine Enkel sind häufig zu Besuch. Nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus freut sich Friedhelm jedoch besonders, dass alle zusammen gekommen sind, um ihn zu sehen. Zum sprechen muss er dabei das Ventil mit der Hand schließen. „Schön, dass ihr alle da seid“, sagt er immer wieder.
Für eineinhalb Monate muss Friedhelm fünf Mal wöchentlich zur Strahlentherapie. Für jeden Termin wird er von einem Fahrdienst ins Strahlenzentrum Neuwied gefahren. Für die zehnminütige Behandlung ist sein Kopf mit einer Maske auf dem Tisch festgeschraubt, damit er absolut ruhig liegen bleibt.
„Mir schmeckt alles nur noch wie Blei!“ Friedhelm hat immer noch Nackenschmerzen von der Operation. Deswegen massiert ihn seine älteste Tochter Susanne oft. Die Bestrahlung hat seine Mund- und Nasenschleimhäute mittlerweile so geschädigt, dass er nichts mehr riechen und schmecken kann.
Wenn die lautlose Stimme nicht ausreicht, greift Friedhelm zum Stift. Spiegel, Pinzette, Inhaliergerät, Pflaster, Taschentücher, Salbeitee, und Wundsalbe sind fester Bestandteil seines Alltags geworden. Besonders zu Beginn assistiert ihm Ingeliese bei der Pflege der neuen Luftröhrenöffnung. „Seine Hustenanfälle sind von der Bestrahlung noch schlimmer als vor der Operation. Ich hoffe es geht im bald wieder besser. Oft muss ich rausgehen, weil ich sein Husten einfach nicht mehr hören kann.“ sagt seine jüngste Tochter.
Friedhelm schmerzt der Hals von der Bestrahlung. Am Wochenende, wenn er nicht zur Behandlung muss, geht es ihm besonders schlecht. Zur Ablenkung restauriert er den alten Fiat 500, den er vor einem halben Jahr als Überraschung für Ingeliese gekauft und deswegen bis vor kurzem in der Feldscheune eines Freundes versteckt hat.
„Ich kann nicht sagen, dass ich mich über das Auto freue. Ich freue mich für ihn, dass er so ein schönes altes Teil erworben hat. Letzten Sonntag hat er das erste Mal in unserer Ehe gesagt: ‚Frau, was hast du den Tisch so schön gedeckt.‘ Er hat es mir geflüstert, und ich habe es ihm von den Lippen abgelesen. Das war für mich wirklich eine Freude!“
Nach drei Wochen Bestrahlung möchte Friedhelm die Therapie abbrechen. „Das wäre das blödeste, was Sie tun könnten“, schimpft die Ärztin mit ihm. „Sie setzen damit Ihr Leben aufs Spiel, wenn Sie jetzt mittendrin die Segel streichen! Wenn Sie die Bestrahlung jetzt abbrechen, dann wächst Ihr Krebs wieder!“
Die Bestrahlung strengt Friedhelm so an, dass er sich tagsüber oft hinlegt und schläft. In seinem Kalender zählt er die Tage, bis es vorbei ist.
Friedhelm nimmt auf Anraten der Ärztin jetzt mehr Schmerzmittel. Er setzt die Bestrahlungs-Therapie damit für die letzten drei Wochen fort. Seine Haut ist so wund, dass er das Sprechventil nicht einsetzen und deswegen nicht mehr sprechen kann. Insgesamt muss Friedhelm 32 Bestrahlungen über sich ergehen lassen. „Ich weiß nicht, ob ich mich nochmal bestrahlen lassen würde. Zumal ja alle Lymphknoten frei waren.“ schreibt mir Friedhelm auf einen Zettel, als ich mit ihm zu seiner Bestrahlung fahre.
Friedhelms Familie überrascht ihn am Abend seiner letzten Bestrahlung mit einer kleinen Feier. Erleichtert spielen sie reihum mit der Bestrahlungsmaske. In zehn Tagen fährt er mit seiner Frau zur Reha in das Stimmheilzentrum Bad Rappenau in Baden-Württemberg.
Nach der mehrwöchigen Reha erholt sich Friedhelm sehr langsam von der Bestrahlung. Zusammen mit seinem ältesten Sohn und Freunden packt er gemeinsam Dinge an, die er lange liegen ließ. Heute macht er Platz unter seinem Haus, wo Teile seines 1954er „Knubbel“-Deutz-Traktors, schon 18 Jahre vor sich hin rosteten. Auch am FIAT 500, seinem „Schätzchen“, arbeitet er mit seinen Söhnen weiter. Da er wegen seinem Tracheostoma nicht mehr kopfüber unter dem staubigen Auto arbeiten darf, möchte er selbst eine Kipp-Bühne für den FIAT bauen.
Heute ist Friedhelms 68. Geburtstag. Er selbst hat den Tisch mit Ästen aus Holz und zwei alten, verrosteten Handsägen dekoriert. Zusammen mit Ingeliese hat er an den monatlichen Veranstaltungen der Soldatentumorhilfe teilgenommen und tauscht dort Erfahrungen mit anderen Betroffenen aus. Auf einer Tagung in der Malberg Klinik in Bad Ems begegnet ihm ein Mann der bereits 30 Jahre ohne Kehlkopf lebt.
„Sieht alles gut aus“, beruhigt die Ärztin Friedhelm bei der vierteljährlichen Nachsorge-Untersuchung. Genau ein Jahr ist es her, dass Oberstabsarzt Thieltges die Operation an Friedhelms Hals im Bundeswehrzentralkrankenhaus durchgeführt hat. „Wir haben Frau Thieltges sehr in unser Herz geschlossen. Wir haben das Gefühl, dass wir sehr gut bei ihr aufgehoben sind. Sie war uns gegenüber immer sehr offen und ehrlich. Und das Tollste an ihr ist: Sie ist wohltuend. Sie sieht den Menschen, nicht den Patienten.“ sagen Ingeliese und Friedhelm.
„Meine Familie war wichtig in der schweren Zeit, aber noch wichtiger war und ist für mich Gott. Die Hauptsache ist, dass er bei mir bleibt.“ sagt Friedhelm rückblickend. Dieses Jahr haben er und Ingeliese sich einiges vorgenommen: Stadt-Urlaub in Dresden, im Sommer an die holländische Nordsee und im September nach Italien. „Zwischendurch habe ich mal kurz befürchtet, dass Friedhelm wieder anfängt zu rauchen. Aber zum Glück tut er es nicht. Ich bin froh, dass wir keine Geheimnisse vor einander haben. Nicht mehr!“ lacht Ingeliese erleichtert.